Die faszinierende Welt der virtuellen Realität

Von der Spielindustrie über Kunst zu Entwicklung, Forschung und Therapie

Headsets für erweiterte Realität | Foto: Darlene Alderson/Pexels

Im Museum of Immersive New Art in Bukarest: Vincent van Goghs „Sternnacht“. | Foto: www.facebook.com/mina.museum

Virtuelle Realität ist uns allen aus Computer- und Konsolenspielen längst bekannt. Mithilfe von Tastatur, Maus oder Fernbedienung taucht man in den Cyberspace ein und tritt als Avatar (Verkörperung des Benutzers oder der Benutzerin) direkt auf dem Bildschirm auf. Diese Welt eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, verleiht einem übermenschliche Kräfte, schafft einzelnen gleichgesinnten Nutzern aus aller Welt einen Raum zur Kommunikation und Verknüpfung. Weniger bekannt ist, dass sie auch andere Anwendungen hat als in der Spieleindustrie. Welches sind diese und was passiert, wenn physische und virtuelle Realität aufeinandertreffen? 

Unter virtueller Realität, kurz VR, versteht man eine Darstellung und gleichzeitige Wahrnehmung einer scheinbaren Wirklichkeit in einer in Echtzeit computererzeugten, interaktiven virtuellen Umgebung. Den sprachwissenschaftlich ziemlich jungen Begriff hat der australische Science-Fiction-Autor, Damien Broderick, in seinem 1982 veröffentlichten Roman „The Judas Mandala“ geprägt und dieser wurde 1987 als theoretisches Konzept auch ins Oxford English Dictionary aufgenommen.

Beim Aufbau einer virtuellen Welt sollen einige Anforderungen erfüllt werden, darunter Immersion, Wiedergabetreue, Plausibilität und Interaktivität. 

Immersion beschreibt die Einbettung des Nutzers in die virtuelle Welt. Die Wahrnehmung der eigenen Person in der realen Welt wird vermindert und der Nutzer erlebt eher seine Erfahrung in der VR. Je immersiver eine VR-Erfahrung ist, desto realistischer fühlt sie sich für den Nutzer an. Wiedergabetreue wird durch die genaue und naturgetreue Gestaltung der virtuellen Welt erreicht. Wenn die Interaktion in ihr logisch und stimmig ist, wenn die Aktionen der Nutzer Einfluss auf die virtuelle Umgebung haben und sie darin agieren können, dann erscheint diese glaubwürdig. 

Die Immersion in der VR kann allerdings zu temporären Erkrankungen, genannt VR-Krankheit oder Simulator-Krankheit führen, die der Bewegungsübelkeit ähneln. Nutzern kann schwindelig werden, wenn die real empfundene von der virtuell gesehenen Beschleunigung abweicht. Dies kann der Fall sein, wenn der reale zur Verfügung stehende Raum kleiner als der virtuelle Raum ist, in dem sich der Nutzer bewegen kann. 

Erfindung von VR

Die Technologie geht auf die Illusionstechniken der antiken Kunst zurück. Auch im 19. Jahrhundert galten Rundpanoramen als beliebte Massenunterhaltung.

Dwe erste Entwurf eines VR-Systems stammt aus dem Jahr 1956, als der Amerikaner Morton Heilig ein Filmprojektionssystem baute, welches das Blickfeld des Beobachters peripher horizontal und vertikal gänzlich ausfüllen und dadurch ein „Erfahrungstheater“ anbieten sollte. Ein Jahrzehnt später veröffentlichte Ivan Sutherland das Buch „A Head-Mounted-Three Dimensional Display“ welches grundlegend für die Entwicklung von Head-Mounted-Displays, kurz HDMs, also auf dem Kopf zu tragende visuelle Ausgabegeräte, war. Diese präsentieren Bilder und Videos entweder auf einem augennahen Bildschirm oder direkt auf der Netzhaut mithilfe einer Videobrille, eines VR-Headsets oder -Helms. Da der Bildschirm dabei den Kopfbewegungen des Trägers folgt, bekommt er das Gefühl, sich direkt in der vom Computer erzeugten Bildlandschaft zu bewegen. Einige HMDs schotten ihren Träger von anderen visuellen Eindrücken der Umgebung ab und lassen ihn dadurch vollständig in eine VR eintauchen.

Beim Schnittpunkt der Wirklichkeit und der virtuellen Realität entsteht dann die gemischte Realität oder erweiterte Realität (englisch: Augmented Reality). Durch das Zusammenwirken virtueller, erweiterter und physischer Realitäten entsteht ein Metaversum, das darauf abzielt, verschiedene Handlungsräume des Internets zu einer virtuellen Welt mit Schwerpunkt auf virtuelle Gemeinschaft zu vereinigen. 

„Digitaler Mist“ – eine lausige Party-Idee der EU

Laut Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sei das Metaversum die Zukunft der Sozialmedien. 

Im Hinblick darauf wollte die Europäische Union 2022 „Global Gateway“, eine neue Strategie anhand des Metaversums starten, die darauf abzielte, bis 2027 Investitionen in Höhe von 300 Milliarden Euro zu beschaffen, um der Welt bei der Erholung nach der Pandemie zu helfen und so dem Einfluss Chinas entgegenzuwirken. Wie? Durch die Sensibilisierung politisch unengagierter Jugendlicher zwischen 18 und 35 Jahren, die im Metaversum angesprochen werden sollten.

So hat die EU im Herbst desselben Jahres einen virtuellen Raum gemietet, eine Beach-Party (Gala) veranstalten lassen und Werbung dafür gemacht. Auf der grafisch schlecht gestalteten, „nur“ 387.000 Euro teuren Party, die 24 Stunden dauern sollte, waren von den in Millonenanzahl erwarteten Teilnehmern nur sechs Leute anwesend, die sich nach der ersten Stunde wegen Langeweile und der sich wiederholenden Musik abmeldeten. Einer der Gäste war der australische Journalist Vince Chadwick, der über die gescheiterte Party für Business Insider berichtete. „Deprimierend und peinlich“, „digitaler Mist“ nannten selbst die Initiatoren der EU-Strategie ihre eigene virtuelle Veranstaltung. Nicht den erhofften Erfolg gehabt...

Von der Unterhaltung bis zur Psychotherapie 

Virtuelle Realität lässt sich in vielen Bereichen einsetzen, darunter in verschiedene Technik- und Industriebranchen, in Unterhaltungsmedien und der Psychologie. Wichtige Einsatzgebiete sind dabei die Pilotenausbildung durch Flugsimulatoren, sowie Architektur, Archäologie, Geologie, Medizin, Chemie und Arbeitsschutz, wobei diese Technologie zur Visualisierung verschiedener Vorgänge, Verfahren und unzugänglicher Strukturen eingesetzt wird. Auch in der Industrie wird sie bei der Erstellung virtueller Prototypen und Produktionsplanungen gebraucht. Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist der urbanistische Einsatz bei der städtischen Raumplanung.

Die virtuelle Begehung von Räumlichkeiten stellt eine weitere Anwendung dar und kann in ihrer einfachsten Form als 360°-VR-Rundgang durchgeführt werden. Für Neubauprojekte oder für den Immobilienverkauf lässt sich ein solcher virtueller Rundgang zu Vermarktungszwecken, als eine andere Form des klassischen Exposés, nutzen. Dem Nutzer wird so die Möglichkeit gewährt, ein Lokal von zuhause aus zu „besichtigen“. Geschäfte, Hotels und sogar Museen setzten solche Touren ebenfalls zu Werbezwecken ein.

Eine etwas unerwartete Anwendung der Technologien virtueller Realität muss wohl die klinische in der Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen sein. Diese wurde erst seit den 90er Jahren hauptsächlich in Bezug auf Angststörungen (Spezifische Phobien, Panikstörung und Agoraphobie, Soziale Phobie) und posttraumatische Belastungsstörungen untersucht. Hierbei werden die Patienten unter therapeutischer Anleitung in einer virtuellen Umgebung mit den Reizen konfrontiert, die bei ihnen Angst auslösen, was zu einer Abschwächung der Angst durch Gewöhnung führt. Vielversprechend ist vor allem die Möglichkeit, immersive und interaktive virtuelle Umgebungen zu erschaffen, die gleichzeitig hoch kontrollierbar sind. Somit können einerseits, im Gegensatz zur klassischen Expositionstherapie, möglichst alltagsnahe Situationen und Stimuli dargestellt werden. Auf der anderen Seite können Situationen geschaffen werden, die in der realen Welt gar nicht realisierbar wären (z. B. das Balancieren auf einem Drahtseil zwischen zwei Hochhäusern als Teil der Expositionstherapie).
 
Zeitreisen oder ein Spaziergang durch Klimts Garten

In der Kinoindustrie bilden unterschiedliche Konzepte virtueller Realität die Grundlage für zahlreiche Filme. Das bekannteste Beispiel mag die Matrix-Filmserie sein, in der nahezu die gesamte Erdbevölkerung in der virtuellen Realität beheimatet ist, wobei sich die Menschen nicht bewusst sind, dass sie nur in einer simulierten Welt leben. Oft verwischen Filmemacher die Grenzen zwischen Wirklichkeit und virtueller Realität. 

Dies kann auch bei Gamern passieren, die unter Videospielabhängigkeit leiden. Es besteht dabei die Gefahr, dass sie VR mit der Wirklichkeit verwechseln und aggressives Verhalten aus Spielen, die bewaffnete Konflikte simulieren, an den Tag legen, ihre eigene Kraft überschätzen oder eine mögliche Gefahr aus der realen Umwelt unterschätzen und andere oder sich selbst verletzen. 

Im Kunstbereich wird VR als eigenständige Technik und Gattung eingesetzt.

Eine neue, besonders bei Jugendlichen beliebte Kategorie der Kunst, die versucht, sich auf dem Kunstmarkt zu etablieren, sind die NFTs. Mit Non-Fungible Token (zu Deutsch etwa „nicht-austauschbare Wertmarke“) wird ein virtueller, dezentral organisierter Kryptowert bezeichnet, der im Vergleich zu virtuellen Kryptowährungen einmalig und nicht austauschbar ist. Üblicherweise besteht ein NFT aus einem Verbindungslink zu einer Mediendatei, wie etwa einem Bild oder einem Video, das nur als Ganzes erworben werden kann und nur als Einzelexemplar existiert. Zum Beispiel in Rumänien versucht das Auktionshaus Artmark junge nonkonformistische Künstlerinnen und Künstler durch die Verstärkung ihrer NFTs zu fördern. 

Außerdem wenden immer mehr Kunstschaffende die Techniken der virtuellen Realität an, um ihre Werke auszustellen und zugänglich zu machen. Davon profitieren vor allem Museen.

Unter dem Namen „TimeRide VR“ bietet die TimeRide GmbH Besuchern touristische Attraktionen in Köln, Dresden, Berlin, München und Frankfurt am Main an, die mittels VR-Technik eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen können.

2018 zeigte das Museum für angewandte Kunst Wien zum 100. Todestag des österreichischen Künstlers Gustav Klimt das Ausstellungsexperiment „Klimt’s Magic Garden. A Virtual Reality Experiment by Frederick Baker“ (Klimts magischer Garten. Ein VR-Experiment von Frederick Baker), in Rahmen dessen Besucher mittels VR-Brillen einen Garten betreten konnten, der von Klimts Werkzeichnungen für das Mosaikfries im Speisesaal des Palais Stocklet in Belgien inspiriert ist. 

Hierzulande bietet das letztes Jahr in Bukarest eröffnete Museum of Immersive New Art (MINA, George Constantinescu-Str. 2-4) immersive Aufführungen bestehend aus 360-Grad-Projektionen, gewidmet Gustav Klimt, Vincent van Gogh, neulich auch multisensorische Tributshows mit ABBA, Queen, Coldplay u. a. sowie Märchenaufführungen für Kinder – eine interaktive Kunst- und Musikerfahrung, in die man mit allen Sinnen eintaucht.